„Der Zusammenhalt unserer Gesellschaft beschäftigt mich“

Kerstin Wünsch ist Chefredakteurin der tw tagungswirtschaft, Mitgründerin der Konferenz She Means Business und Gründungsmitglied des gemeinnützigen Vereins She Means Community. Im Interview spricht sie über eine Reisscheune und echte Teilhabe, den Global Gender Gap Report und Liebe.

Welche fünf (Fun-)Fakten lese ich in deinem Steckbrief?

Mein erster Wohnsitz mit meinem Mann ist Berlin, mein zweiter Wohnsitz mit meiner Arbeit ist Frankfurt am Main. Dank Homeoffice – schon vor der Pandemie – und regelmäßigen Aufenthalten im Deutschen Fachverlag lässt sich beides verbinden (1). Ich wäre gerne Französin und habe ein Jahr in Toulon gelebt (2). Persönliche Begegnungen mit Menschen aller Branchen und Berufe, die mich mein Denken und Tun hinterfragen lassen, halten mich seit einem Vierteljahrhundert in der Kongresswelt (3). Ich tanze Ballett zur Nussknacker Suite – allerdings nur für mich (4). Im ersten Pandemiejahr habe ich eine Ausbildung zur ehrenamtlichen Hospizbegleiterin gemacht (5).

© Ulrich Wünsch

Was oder welche Nachricht beschäftigt dich gerade?

Der Zusammenhalt unserer Gesellschaft. Ich frage mich, wie wir im Angesicht von multiplen Krisen – von der Klimakrise über den Ukraine-Krieg bis zum Coronavirus – als Gemeinschaft zusammenfinden und nicht auseinanderfallen. Die documenta fifteen hat mich hier inspiriert. Lumbung ist das indonesische Wort für eine gemeinschaftlich genutzte Reisscheune, in der die Ernte zum Wohle der Gemeinschaft gelagert wird. Alle geben etwas hinein und nehmen nur so viel heraus, wie sie benötigen. Es geht um den gemeinsamen Aufbau von Ressourcen und gerechte Verteilung, gewissermaßen um die Gemeinwohlökonomie.

Seit 25 Jahren schreibst du über Business Events und hast viele Konferenzen in der ganzen Welt besucht. Welche ist dir in Erinnerung geblieben?

Die Konferenz „Inclusion Europe 2009“ in Tampere, Finnland. Es ist die einzige Konferenz, auf der ich geweint habe – vor Rührung. Inclusion Europe ist eine europäische Konferenz von und für Menschen mit geistiger Behinderung und ihren Familien. Wer dabei ist, gehört dazu. Es ging um Themen wie Zugang und Teilhabe: Wie erreichen wir Menschen, die geistig eingeschränkt sind? Es war das interaktivste Format, das ich je erlebt habe. Die Teilnehmer hatten farbige Kellen in den Händen. Hielten sie die rote Kelle hoch, hieß das für die Speaker: „Stopp: Bitte noch einmal und langsam!“. Und bei grün: „Ich möchte etwas sagen – und bitte jetzt!“ Sehr hilfreich fand ich den Gebrauch der einfachen Sprache, damit jeder folgen konnte. Es war Erika Eischer, damals Head of Congress Department der Tampere Hall, die mich anrief und fragte: “I heard you are looking for conferences worth reporting on?”

Was treibt dich an?

Ungerechtigkeit. Ich kann Ungerechtigkeit nicht leiden.

Was findest du ungerecht?

Dass die Geschlechter nicht gleichgestellt sind. Kein Land der Welt Gender Equality hat Gender Equality erreicht. Laut Global Gender Gap Report 2022 des World Economic Forums dauert es noch 132 Jahre bis Frauen den gleichen Zugang zu Gesundheit, Bildung, Beruf und Politik bekommen wie Männer. Das finde ich ungerecht.

Laut Global Gender Gap Report 2022 des World Economic Forums dauert es noch 132 Jahre bis Frauen den gleichen Zugang zu Gesundheit, Bildung, Beruf und Politik bekommen wie Männer. Das finde ich ungerecht.

 

Mit Carina Bauer, CEO der IMEX Group, hast du die Konferenz She Means Business ins Leben gerufen. Wie kam das?

Zum Weltfrauentag 2017 führten Carina und ich die internationale Umfrage „Women in the events industry“ durch. 900 Frauen beteiligten sich. Jede zweite Befragte fühlte sich bei Gehalt und Karriereperspektiven nicht gleichbehandelt wie ihr männlicher Kollege. Wir sagten uns: „We have job to do!“ Acht von zehn Frauen wünschten sich eine Konferenz, um sich zu informieren und auszutauschen, sich zu vernetzen und zu unterstützen. Also haben wir die She Means Business zu Diversity, Gender Equality und Female Empowerment gelauncht; 2018 in Frankfurt am Main und 2019 in Las Vegas.

© IMEX Group

Wieso bist du Gründungsmitglied des gemeinnützigen Vereins She Means Community?

Der Verein ist eine Fortführung der Konferenz She Means Business. Viele Frauen haben uns gesagt, dass sie sich nicht nur zweimal im Jahr treffen wollen, sondern ganzjährig. Dank unserer digitalen Plattform – unterstützt von eventmobi – können wir virtuell Education- und Open-Space-Sessions anbieten ebenso wie Mentoring. Das Wunderbare ist, dass sich aus der digitalen Dynamik eine ganz eigene analoge Verbundenheit entwickelt.

Welche Frage hat dir gefehlt?

Wie mobilisieren wir Männer? Schließlich erreichen wir Gender Equality nur gemeinsam.

Und deine Antwort?

Liebe? Über die Liebe zu ihren Müttern und Großmüttern, ihren Töchtern, Frauen und Freundinnen, Enkeltöchtern und Tanten…

Wer soll „Woman of the month” im Oktober 2022 werden?

Agnes Schipanski, weil ich sie als Professorin sehr schätze und als Mensch sehr mag und weiß: Sie wird sich wie Bolle freuen, wenn sie von dieser Nominierung erfährt. Karin Ruppert

© Beitragsbild HTW Berlin

Wer ist Kerstin Wünsch?

Kerstin Wünsch ist Chefredakteurin der tw tagungswirtschaft, einer Fachzeitschrift der dfv Mediengruppe, Mitgründerin der internationalen Konferenz She Means Business und Gründungsmitglied des gemeinnützigen Vereins She Means Community e.V. Seit 25 Jahren schreibt Kerstin über Business Events in aller Welt. Sie studierte Betriebswirtschaftslehre an der Hochschule Worms mit Schwerpunkt Kongress- und Messewirtschaft, machte eine Ausbildung zur Hotelfachfrau und arbeitete in Frankreich, England, Spanien und den USA.